BAMF-Zahlen Jeder zweite Asylsuchende kommt ohne Papiere nach Deutschland

Veröffentlicht am 23.02.2021 | Lesedauer: 4 Minuten

Wer in Deutschland Asyl beantragt, kann seinen Namen, Geburtsdatum und seine Nationalität oft nicht nachweisen. Jeder zweite Asylbewerber reist ohne Pass ein. Und das auch, weil es die Chancen zu bleiben erhöht. Manche Asylsuchende entledigen sich bewussst ihrer Identitätspapiere, teilweise auf Anraten von Schleusern
Quelle: dpa/Bruno Thevenin

Gut die Hälfte der erwachsenen Asylsuchenden hat im vergangenen Jahr keine Dokumente vorgelegt, die Herkunft, Namen und Geburtsdatum zweifelsfrei belegen. "Im Jahr 2020 lag der Anteil der Asylerstantragstellenden ab 18 Jahren ohne Identitätspapiere bei 51,8 Prozent", heißt es in einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine schriftliche Frage der FDP-Innenpolitikerin Linda Teuteberg.

Im Jahr zuvor waren rund 49 Prozent der erwachsenen Antragsteller ohne Papiere beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorstellig geworden. Im Jahr 2017 - dem ersten, für das im BAMF eine Statistik zur Vorlage von Identitätspapieren erstellt wurde - hatten knapp 61 Prozent aller Asylsuchenden im Alter ab 18 Jahren keine Dokumente dabeigehabt.

In einer früheren Antwort auf eine parlamentarische Anfrage hatte die Bundesregierung verschiedene mögliche Gründe für das Fehlen von Identitätspapieren genannt: etwa Probleme im Meldewesen des Herkunftslandes, der Verlust von Dokumenten auf der Flucht, das Einkassieren der Papiere durch Schleuser. Ein Teil der Antragsteller entledige sich zudem bewusst seiner Papiere - teilweise auf Anraten von Schleusern, "um vermeintlich hierdurch die Chancen im Asylverfahren zu erhöhen".

Die große Zahl von Asylantragstellern ohne Papiere stelle die Behörden vor große Herausforderungen, sagte Teuteberg. Schließlich sei das Asylsystem gedacht "für Menschen, die Schutz vor politischer Verfolgung benötigen".

Enorm erhöhte Bleibechance bei ungeklärter Identität

Dass seit vielen Jahren Asylbewerber mehrheitlich ohne Identitätspapiere hier ankommen, hat mehrere Gründe. Unter ihnen sind Personen, die tatsächlich aus den wenigen Regionen stammen, in denen immer noch keine Geburtsurkunden oder andere Identitätsdokumente erstellt werden. Außerdem sind unter ihnen Zuwanderer, die ihre Papiere auf der Flucht zurücklassen mussten oder sie später verloren haben.

Häufig dürfte dahinter aber Absicht stecken - das nehmen zumindest viele Fachleute an, mit denen WELT in den vergangenen Jahren über das Problem sprach. Beweisen lässt sich das allerdings selten, weil die Indizienlage sehr schwierig ist. Zwar werden beispielsweise regelmäßig Fäkalienschütten von Flugzeugtoiletten geleert und durchsucht, weil man dort immer wieder weggeworfene Pässe von Passagieren findet. Doch in der Mehrzahl der Fälle lässt es sich kaum nachweisen, dass eine Person ohne Dokumente bewusst selbst das Fehlen der Papiere herbeigeführt hat.

Was man allerdings weiß: Eine ungeklärte Identität erhöht die Bleibechance enorm. Die Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers ist nur möglich, wenn sein Herkunftsstaat ihn als eigenen Staatsbürger anerkennt. Solange der Herkunftsstaat dies bezweifelt - sei es, weil er ihn nicht zurücknehmen möchte oder weil er ihn tatsächlich nicht kennt, wenn der Asylsuchende getäuscht hat -, erhält der abgelehnte Asylbewerber (oder aus anderen Gründen ausreisepflichtige Ausländer) in der Regel eine Duldung.

Am häufigsten kommen Afrikaner ohne Pass, Passersatzpapier oder sonstiges Identitätsdokument hier an, unter den volljährigen Asylerstantragstellern 2019 aus Nigeria und Somalia waren es laut einer Liste des Bundesinnenministeriums rund 95 Prozent, Gambier waren zu 98 Prozent ohne jedes Papier. Ebenfalls meist ohne Pass unterwegs: Pakistaner (81 Prozent) und Afghanen (78 Prozent).

Bemerkenswert ist, dass auch 21 Prozent der volljährigen türkischen Antragsteller 2019 keinerlei Dokument bei sich hatten. Selbst bei einem solchen Nato-Mitgliedsland und EU-Beitrittskandidaten bereitet die Identifizierung und Beschaffung der Papiere erhebliche Probleme.

Die Zahl der Asylerstanträge ist gesunken

Das BAMF hat 2020 nach Angaben der Bundesregierung insgesamt 190.608 Identitätsdokumente von Asylsuchenden auf ihre Echtheit hin geprüft. Auf die Frage, wie viele Antragsteller mit gefälschten Dokumenten im vergangenen Jahr Asyl beantragt haben, teilte die Regierung mit, 4488 Dokumente seien von der Prüfstelle des BAMF beanstandet worden. Das entspricht einem Anteil von 2,36 Prozent.

Allerdings wies das Innenministerium darauf hin, dass zum Teil mehrere Dokumente eines Antragstellers geprüft werden. Rückschlüsse auf die genaue Zahl derjenigen, die falsche Papiere vorlegen, kann man aus dieser Prozentzahl daher nicht ziehen.

Im vergangenen Jahr hatten 102.581 Ausländer erstmals einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Darunter waren 26.520 Anträge auf Schutz, die in Deutschland geborene Kinder im Alter von unter einem Jahr betrafen. Die Zahl der Anträge lag deutlich niedriger als im Vorjahr - auch bedingt durch die Corona-Pandemie. 2019 waren beim BAMF 142.509 Asylerstanträge eingegangen.

Unklare Identitäten erschwerten eine angemessene Entscheidung im Asylverfahren erheblich, und zwar unabhängig davon, weshalb jemand keine Papiere vorweisen könne, sagte Teuteberg. Um hier voranzukommen, wäre ein besserer europäischer Datenabgleich vonnöten - auch aus Sicherheitsgründen.

Auch 13 der 72 syrischen Islamisten, deren Fälle 2020 in der sogenannten AG Status des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums von Bund und Ländern besprochen wurden, haben keine Ausweisdokumente. Nach Einschätzung des Bundesinnenministeriums besteht bei ihnen aber dennoch kein Zweifel an der jeweiligen Identität. In der Arbeitsgruppe für "statusrechtliche Begleitmaßnahmen" geht es darum, eine Aufenthaltsbeendigung von Ausländern mit "islamistisch-terroristischem Hintergrund" voranzutreiben.

Diese Zahlen beziehen sich nur auf erwachsene Asylsuchende - so kommt man zu dem Ergebnis, dass nur etwas mehr als die Hälfte ohne Dokumente einreiste. Nicht enthalten sind darin neben Kindern auch die als sogenannte unbegleitete Minderjährige einreisenden Asylbewerber, die fast nie ein Identitätsdokument vorzeigen. Bezieht man auch Jugendliche und Kinder mit ein, reiste in den letzten Jahren durchgängig eine deutliche Mehrheit bis zu drei Vierteln aller Asylsuchenden ohne Identitätsdokument ein.


quelle: welt.de vom 23.02.2021